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Das Leben als Hausaufgabe: Was wir von „Unheilsgeschichten“ lernen können

Bei allem, was Menschen miteinander und getrennt voneinander tun, geht es letztlich immer um ein Gefühl von Stimmigkeit, innerer Ruhe und Zufriedenheit, um einen Zustand, den die Fachleute „Kohärenz“ nennen, in dem alles richtig gut passt, in dem man versteht, verstanden wird, gestalten kann und möglichst viel von dem, was man dabei als sinnvoll erlebt, mit anderen teilt.

 

Diesen Zustand als Dauerzustand gibt es leider nicht! Solange wir leben, streben wir ihn an, für einen Augenblick schaut es durchaus so aus, als könnten wir zufrieden sein, als wären unsere Wünsche erfüllt, aber dann ändert es sich wieder und manchmal so abrupt, dass uns dabei der Atem stockt … Im Blick auf unseren Alltag bedeutet das, dass nie alles passt, dass immer irgendetwas nicht passt. Solange wir leben, müssen wir damit rechnen, dass immer wieder irgendetwas nicht passt, dass – wie das einmal John Lennon ausgedrückt hat – Leben immer das ist, was passiert, während wir andere Pläne schmieden.

 

Niemand hätte sich vor drei Jahren vorstellen können, dass ein kleines Virus den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Alltag der Menschen weltweit so nachhaltig zu verändern vermag. Und wohl niemand hätte es vor ein paar Monaten für möglich gehalten, dass vor der Haustüre Europas ein Krieg tobt, der uns alle betrifft.

 

Seither sind Gewohnheiten in Frage gestellt, Pläne verworfen, Regeln außer Kraft gesetzt und Vorhaben unmöglich gemacht worden. Das Leben besser zu verstehen, bedeutet in diesem Zusammenhang, sich von solchen Erfahrungen nicht entmutigen zu lassen, sondern sie als Chance für neue Perspektiven zu begreifen. So gesehen könnte das Ziel des Lebens darin bestehen, danach zu trachten, immer besser jemand zu werden, der nichts dagegen hat, dass nie immer alles passt. Und so könnte ein Mensch mit der Zeit einer werden, der mit dem, was nicht passt, so umzugehen lernt, dass es für ihn mit der Zeit wieder passt. Gemeinsam mit anderen Menschen ließen sich so Konflikte lösen, Schwierigkeiten meistern und Durststrecken überstehen. Kein anderer versteht das besser als der biblische Mensch. Denn er weiß davon in ungezählten Geschichten zu berichten.
So gesehen ereignet sich die biblische Heilsgeschichte auf dem Hintergrund vieler Unheilsgeschichten. Diese Unheilsgeschichten aber haben dort nie das letzte Wort!

 

So betrachtet besteht das Glück im Leben nicht darin, keine Probleme zu haben, sondern darin, an Schwierigkeiten und Problemen zu wachsen und neue Probleme als Herausforderung zu sehen. Die angenehme „Nebenwirkung“ einer solchen Grundeinstellung bestünde darin, sich gegenseitig zu ermutigen, jemand sein zu wollen, der unstimmige Zustände wieder in stimmige Zustände zu verwandeln weiß. Voraussetzung dafür wäre eine Phantasie, die neugierig darauf sein lässt, was uns angesichts der unerwartet auftauchenden Probleme einfallen kann, um die entschwundene Stimmigkeit wieder herstellen zu können.

 

In guten Zeiten haben wir gelegentlich zueinander ermutigend gesagt: Damit alles so bleibt, wie es ist, muss sich vieles ändern. Jetzt, nachdem sich so vieles in so kurzer Zeit so gründlich geändert hat, sind wir gut beraten, unsere gewohnten Denkmuster einer kritischen Prüfung unterziehen. Wenn es ein kleines Virus geschafft hat, kreative Kräfte weltweit zu bündeln und radikale ökonomische, soziale und gesundheitliche Änderungen zu bewirken, dann könnte uns das doch auch mit neuen Augen auf die in jedem Menschen schlummernden Fähigkeiten schauen lassen.
Veränderung und Wandel sind so nicht nur möglich, sondern dringend not(ab)wendend!

Wir stehen weltweit vor der großen Herausforderung, neue Wege zu finden und uns die Frage zu stellen, ob manches von dem, was jetzt nicht mehr möglich ist, überhaupt jemals notwendig war!? Oder auch, ob es nicht grundsätzlich hoch an der Zeit wäre, in vielen Bereichen anders zu denken und zu handeln, vielleicht sogar bescheidener zu werden und sich gründlicher um das zu sorgen, was Menschen für ein gelungenes Leben tatsächlich brauchen!?

In diesem Zusammenhang hat mich die Antwort des ehemaligen Kommissionspräsidenten der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker, beeindruckt. Auf die Frage eines Journalisten, wie es nach der Krise weitergeht, meinte er: „Vielleicht werden wir bessere Nachbarn. Es gibt im Bereich der sogenannten Zivilgesellschaft, also bei den Menschen, ungeheuer viele Solidaritätsreflexe, die jetzt offenbar werden. Es entsteht so viel Gutes in der Nachbarschaft, in den Dorfgemeinschaften. Das trägt dazu bei, dass wir uns mehr mögen, als wir das zuvor getan haben.“

Damit solche Perspektiven nicht fromme Wünsche bleiben, müsste uns in mehrfacher Hinsicht eine Änderung unseres Denkens und Handelns über aktuelle Krisenzeiten hinaus ein Herzensanliegen sein:

In allen Bereichen unserer Gesellschaft brauchen wir dringend einen höchst fälligen Wandel von einer Ressourcenausnutzungsmentalität hin zu einer Potentialentfaltungskultur, von einer abgrundtiefen „Mangel-Mentalität“ hin zu einer „Kultur des Überflusses“. Die Früchte der Mangel-Mentalität sind Eifersucht, Neid und Missgunst. Dann schmecken die Kirschen in Nachbars Garten immer besser als die eigenen! Die Frucht der Überflusskultur aber ist staunende Dankbarkeit. Sie lebt aus der tiefen Überzeugung, dass genug für uns alle da ist! Der Mensch ist überreich! Es gehört ihm die ganze Welt! Wenn er das erkennt, versteht er, dass er diesen Reichtum dadurch vermehrt, dass er ihn mit anderen teilt. Franziskus als „ein zweiter Christus“ hat uns den Gipfel dieses Reichtums in seiner „Vermählung mit Frau Armut“ vorgelebt. Durch alle Jahrhunderte hindurch hat dieses franziskanische Beispiel weit über das Christentum hinausgestrahlt. Unsere Welt braucht dieses glaubwürdige Beispiel franziskanischen Reichtums dringender denn je!

 

Eine andere Änderung unseres Denkens und Handelns könnte sich dem Versuch widmen, ein „Entweder-oder-Denken“ gegen ein „Sowohl-als-auch-Denken“ zu tauschen. Krieg und Coronakrise stellen uns deutlicher denn je zuvor unsere gemeinsamen Bedürfnisse vor Augen. Ein „Entweder-oder-Denken“ gerät immer in die Gefahr, die Vorzüge der einen Seite gegen die Nachteile der anderen Seite auszuspielen. Gerade in Krisenzeiten sollten wir ein Gespür für die Vorteile auf beiden Seiten entwickeln.

Der römische Soziologe Carlo Mongardini (* 1938) spricht im Blick auf unsere Welt von Marktplatz und Tempel, zwei voneinander zu unterscheidende, aber doch aufeinander verweisende Bereiche. Der Marktplatz bedeutet Leben, Gemeinschaft und Geschichte, Leistung und Wettbewerb, Abwechslung und Unterhaltung, aber auch Egoismus bis hin zum Populismus. Dieser Marktplatz ist aber auch der Ort der Demokratie, des Austausches, des Handels, der Mitteilung und des Miteinander-teilens von Nachrichten und Lebensmitteln.

Der Tempel wiederum ist der heilige, heilende, ermutigende Ort der Werte und Ideale, der Ort des Kostbarsten und Besten. Da Religion in unserer Zeit der Säkularisierung unterworfen ist, könnte man meinen, dass der Marktplatz auch auf den Bereich des Tempels übergreift und mit seinen Regeln den Alltag des Tempels bestimmt. Ein verheerender Trugschluss. Eine Kultur des Zusammenlebens bedarf mehr denn je einer „un-verzweckten“ Kultur des Miteinanders, das die Würde des Menschen, seine Grundrechte und Pflichten in den Mittelpunkt stellt und sorgsam darüber wacht. Wenn schon nicht die eine oder andere Religion, so muss zumindest Spiritualität und Mystik in einer Gesellschaft eine bleibend tragende Roll spielen.

Im Tagebuch von Johannes XXIII. findet sich diesbezüglich ein ewig gültiger und richtungsweisender Satz: „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen.“

Arnold Mettnitzer (c) Paloma Schreiber

Arnold Mettnitzer, * 1952 in Gmünd/Kärnten, Studium der Theologie in Wien und Rom. Seit 1996 Psychotherapeut in freier Praxis in Wien. Buch- und Hörbuchautor zu Fragen von Gesundheit und gelungenem Leben. Freier Mitarbeiter des ORF.

Foto (c) Paloma Schreiber

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