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Die Segel anders setzen

Im Chinesischen besteht das Wort Krise aus zwei Schriftzeichen: Das eine bedeutet „Gefahr“, das andere „Chance“. Beides zu sehen hilft, Krisen besser zu bewältigen.

Unser Bewusstsein für Bedrohung hat sich durch die Pandemie geschärft. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen Folgen für unser Leben haben in breiten Schichten der Bevölkerung Existenzängste ausgelöst. Wichtige Werte stehen auf dem Spiel, das verunsichert, engt unseren Blick ein. Die Chance wird oft nicht gesehen. Immer geht es um Veränderungen: der Sichtweisen, der Erwartungen, des Verhaltens. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, schreibt Friedrich Hölderlin. In der Bedrohung entwickeln wir neue Kräfte und Durchhaltevermögen.

Handlungsfähig bleiben

 Nicht alle Menschen gehen mit schwierigen Situationen gleich um. In den vielen Gesprächen, die wir in der Krankenhausseelsorge mit Patient*innen führen, zeigt sich, dass eine nach vorne gewandte Lebenseinstellung hilfreich ist. Wer eine Perspektive hat, findet auch Wege, mit der geänderten Lage besser umzugehen und handlungsfähig zu bleiben. Das Gefühl, ausgeliefert und zur Passivität gezwungen zu sein, macht Angst, die zusätzlich lähmt. In dieser Erstarrung verlieren wir die Selbstermächtigung. Diese Erfahrung machen viele Patient*innen, die sich um ihre Zukunft sorgen. Es ist wichtig, dass wir tun, was uns möglich ist, auch wenn es noch so wenig erscheint.

 

Im Johannesevangelium wird von einem Mann berichtet, der seit 38 Jahren gelähmt und auf Hilfe anderer angewiesen ist. Er selbst hat resigniert, er erwartet keine Unterstützung der Mitmenschen mehr, er hat sich damit arrangiert, zu den Verlierern der Gesellschaft zu gehören. Jesus ermutigt ihn: „Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher.“ (Joh 5, 8) Er traut ihm zu, dass er das selbst kann. Diese Ermächtigung brauchen wir alle in bedrohlichen Situationen, ob jung oder alt.

 

Über Ängste sprechen

Wer bereits Not- und Kriegszeiten durchmachen musste, kann auf zahlreiche Strategien zurückgreifen, z.B. Maßhalten oder das Prinzip der Hoffnung. Nicht alles, was uns in der Wohlstandsgesellschaft zur Verfügung steht, ist auch lebensnotwendig. Von älteren Menschen können wir lernen, für das, was wir haben, dankbar zu sein und mit den Ressourcen sparsam umzugehen. Erinnerungen an schlimme Ereignisse können aber auch in emotionale Krisen stürzen. Existenzängste sind bedrohlich, junge Menschen sind davon genauso betroffen wie ältere. Was uns Angst macht, muss zur Sprache kommen.

 

Eine alte Dame hat als Kind den Zweiten Weltkrieg in Wien erlebt. Aus irgendeinem Grund waren wir auf Vögel im Allgemeinen und auf den Kuckuck im Besonderen zu sprechen gekommen. Da fiel ihr plötzlich wieder ein, dass er als Vorwarnung für einen bevorstehenden Fliegerangriff zu hören war – erst dann wurden die Sirenen laut. Sie sprach von dieser Zeit und am Ende unserer Unterhaltung war sie überrascht, dass diese Erinnerungen nach so vielen Jahrzehnten wieder da waren. Sie bedankte sich, dass sie darüber sprechen konnte.

 

Segel setzen (c) pixabay

Gemeinsam ist vieles leichter

Ein großes Damoklesschwert in bedrohlichen Zeiten ist die Angst vor Einsamkeit und Isolation. Auch hiervon sind alle Altersgruppen betroffen. Die vielen Lockdowns der vergangenen zwei Jahre haben soziale Netze und Beziehungsgefüge nachhaltig zerstört. Nicht immer können die Betroffenen wieder dort anknüpfen, wo sie vor der Pandemie waren. Als wichtigste Kraftquelle wird die Familie genannt, in der alle aufeinander achten und Sorge füreinander tragen. Wer in einem solchen Verbund eingebettet ist, erfährt trotz Bedrohungen das, was wir Geborgenheit nennen.

 

Eine junge Frau erzählte mir, dass sie nach dem Verlust der Arbeit aus finanziellen Gründen ihre Wohnung – und damit ihre Eigenständigkeit – aufgeben musste und froh war, vorerst zu den Eltern zurückkehren zu können.

 

Für einen alleinstehenden Mann war es wichtig, für seine betagten Nachbarn die Einkäufe zu übernehmen. So hatte er eine Aufgabe, die Sinn machte und war in Kontakt mit Menschen – das tat auch ihm gut.

Im Alleinsein sich selbst und Gott begegnen

 

Schwierige Situationen sind gemeinsam leichter zu bewältigen oder zu ertragen. Nichts desto trotz ist es erstrebenswert, auch das Alleinsein zu lernen, denn so können wir uns auch selbst begegnen. In der Zurückgezogenheit hat auch die Gottesbeziehung ihre Entfaltungsmöglichkeiten.

 

Jesus hat sich immer wieder in die Einsamkeit zurückgezogen, um mit Gott, dem Vater, in Beziehung zu sein. Für das Gebet empfiehlt er: „Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließe deine Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ (Mt 6,6)

 

Ein Coronapatient hat die Wochen in der Intensivstation unter anderem dadurch überstanden, dass er für seine Enkelkinder gebetet hat.

 

Das Gebet stärkt unser Vertrauen ins irdisch-begrenzte Leben. Es stärkt das Gottvertrauen und hilft, das, was wir nicht ändern können, anzunehmen. Besonnenheit vermindert die Dramatik, macht uns ruhiger und lässt uns Entscheidungen mit mehr Erdung treffen. So kann es besser gelingen, sich auf die jeweilige Gegebenheit einzustellen, wenn wir die Umstände und die Rahmenbedingungen nicht ändern können, oder, um mit Aristoteles zu sprechen: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“

 

MArtina Lainer (c) KH Braunau

Mag.a Martina Lainer ist Leiterin der Krankenhausseelsorge im Krankenhaus St. Josef in Braunau. Ihr Lebensmotto: Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht bzw. Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. (2 Tim 1, 7).

Foto (c) KH Braunau

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