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Freiheit und Geschwisterlichkeit

Corona-Politik zwischen Einzelwohl und Gemeinwohl

In den Zeiten der strengen Lockdowns wurde vielen europäischen Regierungen vorgeworfen, die Menschenrechte leichtfertig preisgegeben und nicht genügend auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen geachtet zu haben. Das ist ein schwerer Vorwurf, denn die Menschenrechte sind die Grundlage freiheitlicher Demokratien.

Es geht ums Abwägen

Zunächst einmal macht der Verweis auf die Verhältnismäßigkeit deutlich, dass es um eine Abwägung geht: Menschenrecht steht gegen Menschenrecht. Das Menschenrecht auf Freizügigkeit gegen das Menschenrecht auf Leben. Die Menschenrechte auf freie Berufs- und Religionsausübung gegen das Menschenrecht auf Gesundheit und körperliche Integrität. Es geht also nicht um die Frage, ob der Staat die Menschenrechte schützt oder untergräbt, sondern um die Frage, welche Menschenrechte welcher Menschen in einer Pandemie Vorrang vor anderen Menschenrechten anderer Menschen haben. Alle zu verwirklichen ist nicht möglich. In jedem Szenario müssen einige davon mehr oder weniger stark eingeschränkt werden. Das ist prinzipiell eine ziemlich normale Situation. In den 76 Jahren der Zweiten Republik dürfte es keinen Tag gegeben haben, an dem Gesetzgeber und Gerichte nicht mit Abwägungen konkurrierender Grundrechte beschäftigt waren, wenn auch nicht in diesem enormen Ausmaß wie während der Pandemie.

Natürlich war es für sehr viele Menschen belastend, wie abgeschnitten von allen Kontakten sie leben mussten. Wäre das nur um ihrer eigenen Gesundheit willen geschehen, hätte man ihnen die Entscheidung selbst überlassen müssen. Und wäre es nur um der Gesundheit aller willen geschehen, könnte man die Verhältnismäßigkeit noch immer leicht bezweifeln. Aber die Bilder aus Italien im März 2020 haben uns gelehrt, dass es um viel mehr geht: Um die Stabilität des Gesundheitssystems, der öffentlichen Verwaltung, ja des Staates insgesamt.

Gemeinwohl vor Einzelwohl

In der christlichen Soziallehre lautet eines der fünf Grundprinzipien: Gemeinwohl hat Vorrang vor Einzelwohl. Dieses Prinzip ist nach 1945 in die verfassungsmäßige Architektur vieler westeuropäischer Nationalstaaten eingegangen. Gemeinwohl meint dabei die Strukturen, die ein gutes Leben der Einzelnen ermöglichen, nämlich die Strukturen eines geordneten Rechtsstaats, also Gewaltenteilung und alles dazu Nötige, und die öffentliche Infrastruktur, also Gesundheits- und Sozialsystem, Bildungs- und Kommunikationssystem, Verkehrsinfrastruktur. Diese Strukturen haben absoluten Vorrang, weil die einzelnen Menschen ohne sie kein gutes Leben realisieren können. Sie zu sichern, z.B. indem man die Kapazität der Krankenhäuser und ihrer Intensivstationen nicht überfordert, war immer das prioritäre Ziel der Regierungen. Und sie konnten in den Phasen hoher Infektionszahlen nur dadurch gesichert werden, dass alle einen Teil ihres Einzelwohls dafür zurückgestellt haben – so schmerzlich das im Einzelfall sein mochte. Aufgebaut wird ein Gemeinwesen in Generationen. Zerstört ist es schnell.

Rechtsstaat hat funktioniert

Im Gegensatz zu demokratiefeindlichen oder undemokratischen Ländern ist der Rechtsstaat in Österreich weitgehend intakt. BürgerInnen wie Organisationen konnten jederzeit gegen die Entscheidungen der Regierung vor Gericht klagen, und das geschah auch. Die Gerichte entschieden zeitnah, und mitunter erhielten die klagenden BürgerInnen Recht und die Regierung musste eine erlassene Einschränkung aufheben. Die Gewaltenteilung hat also funktioniert, die Justiz hat unabhängig von Regierung und Parlament nach Recht und Gesetz entschieden. Das gab im Falle unklarer oder zweifelhafter Entscheidungen allen Beteiligten Sicherheit.

Der Rechtsstaat hat funktioniert. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Wir sollten es anerkennen und aktiv an seiner Stärkung mitwirken. Ebenso sollten wir es, wo immer möglich, unterstützen, dass die europäischen Institutionen autoritäre Anwandlungen mancher EU-Mitgliedsstaaten in die Schranken weisen – was mitunter sehr schwierig ist. Vor allem aber sollte uns bewusst sein: Menschenrechte müssen untereinander immer abgewogen werden, denn sie reiben sich dauernd aneinander. Kein einziges Menschenrecht gilt absolut, nicht das auf Leben, aber auch nicht das auf Freiheit. Einzig die Menschenwürde ist unantastbar. Sie ist kein Menschenrecht, sondern die allen Menschenrechten zu Grunde liegende Basis: Niemand darf für die Interessen anderer völlig verzweckt werden. Und das heißt: Die Bedürfnisse aller zählen. Alle müssen sie untereinander abgewogen werden.

Individualismus braucht Gegengewicht

In den letzten Jahrzehnten ist, wohl auch durch die individualistische Fassung der Menschenrechte, die Gemeinwohlorientierung des Staates weit in den Hintergrund gerückt. Es dominiert ein moralischer und rechtlicher Individualismus auf der Basis individueller Freiheitsrechte. Historisch ist diese Gegenbewegung zu den Kollektivismen des 20. Jahrhunderts, sei es zum Nationalsozialismus, sei es zum Kommunismus, verständlich und berechtigt, weil Individualrechte in ihnen wenig bis gar nichts galten. Doch jeder Individualismus braucht das Gegengewicht der Gemeinwohlorientierung. Sonst gleitet er ab in das Recht des Stärkeren und in rücksichtslosen Egoismus.

Toleranz endet dort, wo andere Individuen oder das Gemeinwohl geschädigt oder gefährdet werden. Von der Gemeinwohlbindung ist sie nicht befreit – ebenso wenig wie die Gemeinwohlverpflichtung ohne Toleranz und gegenseitige Achtung vorstellbar ist. Das Motto moderner Staaten lautet nicht „Freiheit“, sondern „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“. Keines dieser drei Prinzipien darf den beiden anderen geopfert werden.

 

Michael Rosenberger Foto © Suzy Stöckl

Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger
Vorstand des Instituts für Moraltheologie der Katholischen Privatuniversität Linz

Foto © Suzy Stöckl

Dieser Artikel ist im FranziskanerinnenMagazin 2/2021 erschienen.

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