Frieden – Spiritualität in unsicheren Zeiten
Vor genau 30 Jahren erschien das Buch „Ende der Geschichte“. „Der Kampf der Ideologien“, wurde dort berichtet, „sei zu Ende.“ Mit dem Fall der Blocksysteme sei, so der Autor Francis Fukuyama, das Ende der Geschichte gekommen. Das ist wirklich auch am Ende, das Ende der Geschichte. Wir stehen heute wieder in alten und ganz neuen Konfliktsituationen. Aber nicht nur die Ukraine legt uns das Thema „Frieden“ und „Frieden suchen“ neu vor, sondern insgesamt 25 Großkonflikte in dieser Welt. Und das schon länger, nicht erst jetzt.
Papst Franziskus hat 2018 vor dem Diplomatischen Corps in Rom eine Ansprache gehalten und dort Gründe genannt, die zu Kriegsverbrechen führen und die Kriegstreiberei begründen. Dort sagte er zum einen, das Streben, den bestehenden Machtbereich auszuweiten, sei einer der großen Kriegstreiber; die Sucht, in der Vergangenheit vermeintlich oder tatsächlich angetanes Unrecht zu vergelten, dass also nicht aufgearbeitete Konflikte und Enttäuschungen oder Abwertungen immer noch nachwirken; die Sicherung des Zugangs für Industrie und Wirtschaft zu immer knapper werdenden Rohstoffen, und damit verbunden, Märkte zu erschließen – auch das sei heute der Hintergrund vieler Kriege und Auseinandersetzungen. Und ebenso die Sicherung von Absatzmärkten, die ganze Industrien am Laufen halten.
Schließlich gibt es noch Ideologien, die Gewaltbereitschaft verherrlichen: Rassismus, neuer Kolonialismus, Fundamentalismus. Und natürlich die verbreitete Mentalität der Wegwerf-Unkultur, die sogar Menschen und menschliches Leben geringschätzt. Das sind Antreiber, die es anscheinend immer gibt. Die Kirche oder kirchliche Einrichtungen versuchen, auf einer ganz bestimmten Schiene darauf zu antworten.
Vor der UNO-Konferenz hat Papst Franziskus 2017 einen Satz formuliert, der die kirchliche Friedenslehre im Grunde zusammenfasst: „Frieden muss gegründet sein auf Gerechtigkeit, auf ganzheitliche menschliche Entwicklung, auf die Achtung der Grundrechte, die Bewahrung der Schöpfung, die Beteiligung am öffentlichen Leben, auf das Vertrauen zwischen den Völkern, die Unterstützung friedlicher Institutionen, auf den Zugang zu Bildung und zum Gesundheitswesen, auf Dialog und Solidarität.“
Man sieht an diesem einen kompakten Satz, wie herausfordernd Friedensarbeit heute ist. Uns aber soll heute die franziskanische Haltung – die Haltung des hl. Franziskus – zum Thema Frieden interessieren, denn das muss uns klar sein: Bei aller strukturellen Arbeit, bei allen Regelwerken, die nötig sind zur Zusammenarbeit der Nationen, der Staatengemeinschaft, ist für den künftigen Weltfrieden auch der innere Frieden wichtig.
Frieden beginnt immer im Kleinsten und reagiert auf das Größte, und das Größte wirkt wieder zurück in das Kleinste.
Wenn Menschen in sich selbst zerrissen sind, wenn sie selbst nicht zur Ruhe kommen, ist der Makrokosmos – das, was Staaten und Nationen tun – manchmal nichts anderes als der Ausdruck eines Mikrokosmos. Frieden beginnt immer im Kleinsten und reagiert auf das Größte, und das Größte wirkt wieder zurück in das Kleinste.
Es gibt in der Tradition der Kirche beim heiligen Augustinus die sogenannte „Friedenstafel“, die davon spricht, dass es immer innere Prioritäten sind, die zu äußeren Prioritäten führen. Es gibt also eine Korrespondenz zwischen innerem und äußerem Frieden. Ein verkehrtes Streben nach Dominanz über andere, das rücksichtslose Bemühen, den eigenen Willen durchzusetzen und eine sehr starke Ausrichtung nur auf materielle Güter verändert nicht nur die Haltung im Staat, sondern auch in Familien und anderen Bereichen. Unzufriedenheit und Streit basieren auf solchen Präferenzverschiebungen, auf falschen Güterpräferenzen oder auf Unfrieden in einem selbst.
Der Friede Gottes ist ein anderer als der Friede, der von uns kommt.
In der Tradition unterscheiden wir drei Friedensbegriffe:
- Die Pax romana – der Friede, den der Herrscher setzt. Wenn ein Land erobert wird, setzt dieser Herrscher Regeln, dadurch befriedet er das Land.
- Eirene – der griechische Friedensgedanke, meint das Wohlergehen des Volkes, der polis, die sich abgrenzt von anderen Völkern, den „Fremden“, den „Barbaren“. Man organisiert für sich einen Güteraustausch, bei dem allen das Nötige zur Verfügung steht. Dabei schließt man andere Volksgruppen oder Rassen aus. Friede bedeutet also eine Art Güterzufriedenheit.
- Der christliche Friedensgedanke ist ein anderer: Er sagt, es muss einen Frieden von Gott her geben. Etwas, was sich von Gott selbst eröffnet. Damit wir aus dieser Haltung – dem Gehalten-Sein von Gott – selbst mit uns versöhnt sind und mit anderen anders agieren. Der Friede Gottes wird inmitten einer unerlösten, von Gewalt und Rivalität gekennzeichneten Welt sichtbar – so die biblische Lehre – wenn Menschen das Wagnis einer erstinitiativen Liebe auf jemanden anderen hin setzen, also den ersten Schritt der Liebe tun. So wird es auch in der Bergpredigt dargestellt, wo die Friedensstifter seliggepriesen werden. In der Feldrede im Lukasevangelium und in der Bergpredigt nach Matthäus heiß es: „… doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurück erhoffen könnt“. Das ist im lukanischen Kontext mehr als die Goldene Regel, die auffordert: „Erwarte von anderen immer das, was du bereit bist, selbst zu geben“. Oder: „Gib dem andern, was du selbst von ihm erwartest“. Hier geht es um einen Überstieg. Vielmehr sollen Menschen, die dem Frieden dienen wollen, in ihrem Urteilen und Handeln an der Großzügigkeit und Menschenfreundlichkeit Gottes Maß nehmen. So heißt es im Titusbrief ganz deutlich, dass die Offenbarung der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in der Geburt Jesu, im Menschwerden Gottes wahr geworden ist. Sie besteht darin, „zu jedem guten Werk bereit zu sein, niemanden zu schmähen, friedfertig zu sein, gütig, und alle Freundlichkeit allen Menschen gegenüber zu zeigen“. Die Bereitschaft, ohne Rückversicherung den ersten Schritt auf den anderen Menschen zuzugehen, um seine Feindschaft zu unterlaufen, setzt den Mut voraus, beträchtliche Risiken auf sich zu nehmen.
Es geht nicht um einen friedfertigen Menschen, sondern um den Menschen, der bereit ist, sich zu engagieren, Streit beizulegen.
Das ist der Grundfriedensgedanke des hl. Franziskus: diesen ersten Schritt zu tun jenseits der Schutzmechanismen. Jesus Christus, in dem der messianische Friede zu den Menschen kommt, verlangt von denen, die mit ihm zu Menschen des Friedens werden wollen, die Initiative des ersten Schrittes, die sie im Vertrauen auf seinen himmlischen Vater wagen sollen. So heißt es bei Lukas 6, 36: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Das ist auch der Sinn der Seligpreisungen aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium, der ausdrückliche Friedensstifter im Auge hat. Hier geht es nicht nur um eine Friedensgesinnung – dass jemand etwa versucht, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sondern er spricht hier von Friedensstiftern. Man muss das griechische Wort, das dort steht – „eirenopoios“ – eigentlich wörtlich übersetzen: „Friedensmacher“, also: „Selig die Friedensmacher!“ Das heißt, es geht nicht um einen friedfertigen Menschen, sondern um den Menschen, der bereit ist, sich zu engagieren, Streit beizulegen. Daher ist die Übersetzung „Selig sind die Friedfertigen“ zu blass. Wörtlich sind vielmehr diejenigen gemeint, die in der Haltung einer aktiven Friedensbereitschaft die Komfortzone des Lebens verlassen und sich den Drohungen und Anfeindungen der anderen aktiv entgegenstellen. Die französische Übersetzung unterstreicht auf gelungene Weise dieses Geschehen: Sie spricht von „Handwerkern des Friedens“. Da kommen wir schon nah an ein Gebet, das der franziskanischen Tradition zugeschrieben wurde, mit Sicherheit auch in dieser Nähe entstanden ist, aber nicht von Franziskus selbst stammt. Dieses Gebet hat eine große Karriere, es taucht um 1912/1913 auf und wird vor allem im 1. Weltkrieg oft gebetet. Papst Benedikt XV. hat es verbreitet und Kardinal Spellman, Erzbischof von New York, hat tausende dieser Gebete auf einem Heiligenbild des hl. Franziskus abgedruckt und unter die Menschen gebracht, weil er – zurecht denke ich – die Haltung des hl. Franziskus darin entdeckt hat. Dort heißt es nämlich: „Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens!“ Hier geht es auch wieder um dieses Dienen, darum, zu handeln. „… dass ich liebe, wo man hasst“ – hier kommt dieser eben beschriebene Bergpredigt-Stil hinein, der erste Schritt. „… dass ich verzeihe, wo man beleidigt. Dass ich verbinde, wo Streit ist. Dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist. Dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht. Dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält. Dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert. Dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.“
Immer zeigt sich hier im Gebet der „Handwerker des Friedens“ – also der, der den ersten Schritt setzt aus der Nähe Gottes heraus, aus der Quelle, die Gott selbst ist. Und dann wendet sich das Gebet plötzlich: „Herr, lass mich trachten, nicht dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste. Nicht, dass ich verstanden werde, sondern, dass ich verstehe. Nicht dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.“ Solche Haltungen kann man nicht einfach aus ethischer Überwindung setzen. Das sind Haltungen, die von ganz wo anderes her strömen – aus der Nähe Gottes selbst.
Am Ende des Gebetes rückt die ganze österliche Gestimmtheit des Textes in den Vordergrund „Denn wer sich hingibt, der empfängt. Wer sich selbst vergisst, der findet. Wer verzeiht, dem wird verziehen. Und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.“ Es bleibt die Gewissheit, dass der Sinn nicht durch den Erfolg garantiert ist, sondern weil es eine letzte Hoffnung gibt.
Wenn der eigene Anspruch zurückgefahren wird, kann Frieden werden. Das meint die Fähigkeit, sich auf neue Wege einzulassen.
Dieses Gebet ist im Grunde genommen eine Beschreibung dessen, was es heißt, „Handwerker des Friedens“ zu sein. Man könnte es auch noch anders – fast paradox – ausdrücken: Es geht um eine „aggressive Güte“. Im ursprünglichen Wortsinn heißt das lateinische Verb aggredere „an die Grenzen gehen, herangehen und sich daran wagen“. „Aggressive Güte“ meint also eine Güte, die herangeht und sich daran wagt, die die Konfliktherde des Lebens in den Blick nimmt, die sich daran macht, Kontakt aufzunehmen. Das geht nur durch die Bereitschaft zur eigenen Anspruchsminderung. Das ist es, was Franziskus meint, wenn er von der Armut spricht, die ermöglicht, dass Frieden kommt. Wenn der eigene Anspruch zurückgefahren wird, kann Frieden werden. Das meint keine Blindäugigkeit, aber es meint die Fähigkeit, sich auf neue Wege einzulassen.
Papst Franziskus hat 2016 beim Weltgebetstag für den Frieden in Assisi formuliert, was es heißt, „aggressive Güte“ zu zeigen, also im guten Sinne eine Güte, die handelt, ein Frieden, der angegangen wird. Er sagt dazu „Frieden heißt Vergebung, die als Frucht der Umkehr und des Gebetes von innen her geboren wird und im Namen Gottes die Heilung der Wunden der Vergangenheit möglich macht. Frieden bedeutet Aufnahme, Bereitschaft zum Dialog, Überwindung der Verschlossenheit, nicht Strategien zur Absicherung, sondern Brücken zur Überwindung des Abgrunds. Frieden heißt Zusammenarbeit, lebendiger und konkreter Austausch mit dem anderen, der ein Geschenk und kein Problem ist, ein Bruder, eine Schwester, mit dem oder der man eine bessere Welt aufzubauen versucht. Friede bedeutet Erziehung, ein Aufruf, um jeden Tag die schwierige Kunst der Gemeinschaft zu erlernen, um sich die Kultur der Begegnung anzueignen und das Gewissen von jeder Versuchung zu Gewalt und Verhärtung, die dem Namen Gottes und der Würde des Menschen entgegenstehen, zu reinigen.“
Der franziskanische Weg des Friedens ist ein anspruchsvoller, aber auch würdigender Weg, der uns aufruft, aus der Nähe Gottes heraus kreativ den Frieden zu suchen und zu vermitteln und so zu „Handwerkern und Handwerkerinnen des Friedens“ zu werden.
Von Prof. P. Dr. Ludger Ägidius Schulte OFMCap, Dogmatiker und Rektor der PTH Münster, Vorstand des neuen „Campus für Theologie und Spiritualität von Orden und Geistlichen Gemeinschaften Berlin“ (CTS Berlin).
Foto © PTH Münster
Dieser Text ist ein transkribiertes Youtube-Video, Premiere am 14. 4. 2022
(mit freundlicher Genehmigung des Autors)