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Anastasia: „Was nicht wirklich wichtig ist, schiebe ich weg.“

Wie die Ukrainerin mit ihrer Situation umgeht

 

Der kleine Ivan strahlt: Er hat eine Kiste mit Spielzeug-Tieren ausgeleert und zeigt uns voll Freude den großen grauen Elefanten. Im Wohn- und Spielbereich des Quartiers  16[1], einer Einrichtung der Franziskanerinnen von Vöcklabruck für Frauen und Kinder in Not, spricht Ivans Mutter Anastasia über den Krieg in der Ukraine, der vier Tage nach der Geburt ihres Sohnes ausbrach, die zwei Welten, in denen sie lebt, und darüber, wie sie mit ihrer Situation zurechtkommt.

 

„In meinem Leben gibt es viele Ungewissheiten“, sagt Anastasia. „Mein Ehemann, meine Schwester, meine Eltern und zwei Großmütter leben in der Ukraine. Mein Zuhause ist intakt. Aber jederzeit könnte eine russische Rakete kommen und jemanden töten. Diese Ungewissheit erzeugt Ängste. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Emotionen nicht bewältigen kann, öffne ich mein Notizbuch und schreibe auf die eine Seite, was ich tun werde, wenn ich nach Hause zurückkehre, und auf die andere Seite, was ich tun werde, wenn ich in Österreich bleiben muss. Das ist wie ein Aktionsplan – es hilft mir sehr, meine Ängste zu bekämpfen.“

Anastasias Sohn Ivan ist eineinhalb Jahre alt. Den Großteil seines Lebens hat er im Quartier 16 in Vöcklabruck verbracht. Er liebt es, Videotelefonate mit den Verwandten zu führen. Wenn er seine Oma sieht, ruft er: Ava, ava! Damit gibt er ihr zu verstehen, dass er ihren Hund sehen möchte.

 

Als im Februar 2022 der Krieg ausbrach, hatten Anastasia und ihr Mann ein gutes Leben. Beide haben gearbeitet. Mitte Jänner sind sie in ihre erste eigene Wohnung gezogen. Hochschwanger hat Anastasia die Möbel dafür ausgesucht. „Jetzt wohnt mein Mann dort allein. Danke, dass du diesen Kasten gekauft hast oder jene Kommode…, sagt er manchmal, wenn wir telefonieren“, berichtet sie wehmütig.

 

Anastasias Mann arbeitet derzeit an seinem früheren Arbeitsplatz. Er ist teiltauglich und kann daher, auch wenn er nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen muss, für andere Aufgaben einberufen werden. „Bevor wir uns kennengelernt haben, war er aufgrund von Gesundheitsproblemen untauglich. Ich habe mich sehr darum gekümmert, dass es ihm wieder besser geht. Deshalb ist er jetzt bedingt tauglich … das ist unser etwas trauriger Familienscherz“, meint sie bitter.

 

An dem Tag, als der Krieg begann, waren Ivan und Anastasia noch in der Entbindungsstation im Krankenhaus. Früh am Morgen hörte sie Explosionen und schrieb ihrem Mann Textnachrichten:

05:58 Uhr: Lass uns eine Vereinbarung treffen. Ich lese keine Nachrichten, aber wenn der Krieg ausbricht, rufst du mich an. Es gibt seltsame Geräusche auf der Straße.

06:14 Uhr: Wieder Geräusche. Ich möchte wirklich glauben, dass es nur von einer Baustelle in der Nähe kommt.

Um 6:18 Uhr informierte Anastasias Mann sie in einer Sprachnachricht darüber, dass Russland den Krieg begonnen hat. „Den ganzen Tag über blieb ich sehr ruhig“, erzählt Anastasia. „Ich hatte die Hoffnung, dass alles schnell geregelt würde. In der Welt gibt es so viele Einrichtungen, die Kriege verhindern sollen – die UNO, die NATO, die Diplomatie – irgendeine Organisation sollte es doch schaffen, das zu beenden! Ein langer, groß angelegter Krieg im 21. Jahrhundert im Zentrum Europas schien mir unmöglich. Erst spät am Abend, als ich bereits zuhause war und anfing, die Nachrichten zu hören und den Befehl zur allgemeinen Mobilmachung sah, bekam ich wirklich Angst und mein Optimismus, dass der Krieg rasch zu Ende sein könnte, schwand deutlich.“

 

 

Der Krieg in der Ukraine habe schon lange vor 2022 begonnen, meint Anastasia. „2014 hat Russland mit der Annexion ukrainischer Gebiete begonnen. Damals hatte ich Todesangst. Aber in ständiger Angst zu leben ist sehr schwierig; Angst raubt einem viel Kraft. Über die Jahre habe ich gelernt, damit zu leben. Die Angst lähmt mich nicht mehr. Es mag seltsam klingen, aber diese Erfahrung hat mir geholfen, beim Kriegsausbruch im Februar vorigen Jahres nicht in Panik zu geraten.“ Die Entscheidung, zu flüchten, traf sie, als sie ein Foto von einem Raketenangriff sah: „Darauf war ein Kind zu sehen, vier oder fünf Jahre alt, ohne Arme und Beine. Das war der Moment, in dem ich beschloss, wegzugehen. Ich kann meinem Kind nicht erklären, dass ich so schlimme Sachen sehe und es nicht davor bewahre.“

Die Sorge um die geliebten Menschen in der Heimat, die sie vermisst, die Situation hier im Quartier 16 in Vöcklabruck, wo sie mit Ivan zwar ohne Familie, aber in Sicherheit lebt – wie geht sie mit dieser Zerrissenheit um? „Meine erste Priorität ist es, meine eigene psychische Gesundheit zu bewahren. Ich setze Prioritäten. Was nicht wirklich wichtig ist, schiebe ich weg. Wenn man sehr erschöpft ist, kann man seine Emotionen schlecht kontrollieren. Ich brauche oft viel Energie, um nicht wütend und laut zu werden, wenn Ivan Essen verschmiert, mit Wasser spritzt oder lange ohne erkennbaren Grund weint.“

 

„Was … du bist schon über ein Jahr hier und kannst immer noch nicht Deutsch?“, würden sie und viele andere geflüchtete Menschen oft mit vorwurfsvollem Unterton gefragt:  „Das hilft uns nicht. Unsere Situation ist schwierig und ich habe jetzt, wie viele geflüchtete Frauen mit kleinen Kindern, einfach nicht die Kraft und die Zeit, um auch noch gut Deutsch zu lernen“, sagt Anastasia. „Das heißt nicht, dass mich das nicht interessiert. Ich bemühe mich auch, zu lernen, was ich momentan brauche, zum Beispiel am Spielplatz. Die Kinder sprechen ja nicht Englisch. Aber ich bitte um Verständnis, dass ich momentan meine ganze Energie brauche, um gesund zu bleiben und meinem Kind eine friedliche Atmosphäre und Sicherheit zu vermitteln!“

 

Ivan ist ein lebhaftes Kind. Während wir uns unterhalten, hat er Spielzeug auf dem Boden verteilt und einen hohen Stapel DVDs auf meinem Schoß aufgebaut. Ein Spielzeugbagger fährt lärmend herum und seine Versuche, einen Hocker zu erklimmen, enden mit einem Sturz und Tränen. „Mit seiner Lebhaftigkeit überfordert er mich manchmal. Dennoch glaube ich, ihm Ruhe, Frieden und Sicherheit vermitteln zu können“, sagt Anastasia.

 

Wie kann Frieden auf der Welt gelingen? Eine interessante Frage, meint Anastasia. „Eine ukrainische Journalistin hat dazu ChatGPT[2] befragt. Die Antwort lautete: Wir müssen die Armut bekämpfen, den Markt globalisieren und die Ausbildung verbessern… da gibt es ja viele Bemühungen, aber es funktioniert irgendwie nicht! Ich glaube, die Familie ist der Schlüssel zum Frieden: Gewalt und fehlende Liebe in der Familie bringen Gewalt über ihre Grenzen hinaus hervor. Wird in der Familie Kreativität gefördert, wird darüber gesprochen, wie man etwas Neues, Nützliches schafft und die Welt verbessert, greifen die Kinder diese Ideen auf und tragen sie in die Welt hinaus! Ein ukrainischer Junge sagte: Wenn ich erwachsen bin, werde ich Wissenschaftler werden und eine Maschine erfinden, die mit einem Knopfdruck alle Waffen in der Welt deaktiviert, und niemand wird jemals wieder schießen und töten. Er hätte auch sagen können, dass er als Erwachsener Feinde töten wird, aber er wählte das Schaffen!“

[1]  www.quartier-16.at

[2] Anwendung, die künstliche Intelligenz benutzt, um Fragen zu beantworten, die via Computer eingegeben werden.

Im Fokus: Frieden

Anastasia und Ivan

„Mit seiner Lebhaftigkeit überfordert mich Ivan manchmal. Dennoch glaube ich, ihm Ruhe, Frieden und Sicherheit vermitteln zu können“,

sagt Anastasia.

Interview: Anastasia, Sr. Johanna, Susanne Sametinger

Für das Interview haben Sr. Johanna Pobitzer, die aus dem Russischen übersetzt hat, und Susanne Sametinger Anastasia und Ivan im Sommer im Quartier 16 besucht.

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